Spannende Romananfänge à la Stephen King – Tipps und Beispiele

Denke ich an gelungene Einstiege in spannende Romane, denke ich vor allem an Stephen King, obwohl seine Romanfäge nicht gerade aus dem Lehrbuch stammen.

Ganz gleich, wie mir ein Roman von King im weiteren Verlauf gefällt (und oft gefallen mir seine Enden weniger gut), zu Beginn reißen sie mich immer mit. Grund genug, mich einmal näher damit zu beschäftigen, was denn eigentlich die Ursache für diese extreme Sogwirkung ist, die seine Geschichten von Anfang an entfalten.

Wie Stephen King (meistens) nicht beginnt

Stephen King ist ein Autor mit einer sehr eigenen Handschrift. Er ist in vielen Genres zu Hause und trotzdem erkennt man ihn stets wieder. Meiner Meinung nach sind seine Anfänge dafür mit verantwortlich.

(Vor allem der späte) King setzt sich meistens über einige Grundsätze hinweg. Spät rein, früh raus zum Beispiel.


Was bedeutet »Spät rein, früh raus«?

Das Prinzip »Spät rein, früh raus« stammt aus der Drehbuchszene und ist von mir frei übersetzt. Im Original lautet es »Late in, out early«.

Damit ist gemeint, dass du eine Szene stets so spät wie möglich beginnen und so früh wie möglich beenden solltest. Praktisch bedeutet dieses Prinzip, dass du deine Szene im ersten Entwurf so schreibst, wie du sie nun einmal gerne schreiben möchtest.

Beim Überarbeiten überlegst du dir dann, wo der Hauptkonflikt der Szene, also das wirklich Spannende, ist. Und dann schreibst du die Szene so lange um, bis sie möglichst nahe an diesem Punkt beginnt und auch endet.

Du streichst so gut wie möglich alles, was nicht absolut notwendig ist, um die Szene zu verstehen. Somit wird dein ganzer Roman straffer, rasanter, konfliktreicher und damit spannender.


Oft macht Stephen King das genaue Gegenteil von »Spät rein und früh wieder raus«. Er holt weit aus, erzählt viel von der Hintergrundgeschichte der Handlung, beschreibt lang und breit das Setting oder beginnt mit der ausführlichen Vorstellung einer Figur. Alles Dinge, die normalerweise dazu führen, dass ich einen Roman nach den ersten anderthalb Seiten in die Ecke pfeffere.

Bei King nicht. Das liegt meiner Beobachtung nach an einigen »Tricks«, die er am Anfang eines Romans häufig anwendet, und von denen jeder Autor profitieren kann:

1. Der starke emotionale Wandel einer Figur

Um mir darüber klarzuwerden, wie King den Sog der Gefühle von Anfang an entfaltet, habe ich einmal die Anfänge einiger Romane Revue passieren lassen. Hier ein paar willkürlich gewählte Beispiele:


  • Wahn: Edgar Freemantle erzählt davon, wie er den amerikanischen Traum lebte und wie ein Unfall diesen Traum jäh zum Platzen brachte.
  • Shining: Jack Torrence will eigentlich ein Bestseller-Autor werden, muss aber einen schäbigen Job als Hotelwächter am Arsch der Welt annehmen, um seine Familie durchzubringen.
  • Carrie: Carrie steht wie »ein Frosch unter Schwänen« mit ihren Schulkameradinnen unter der Dusche und wird verspottet, weil zum ersten Mal ihre Periode einsetzt.

In den vielen Fällen erzählt King einen Moment des starken emotionalen Wandels einer Figur. In seinen Ãlteren Romanen springt er noch häufiger in eine Szene hinein (Show don’t tell). Ich habe den Eindruck, dass er das in seinen neueren Romanen eher seltener tut. Trotzdem verlieren die Einstiege ihre emotionale Wirkung meistens nicht.

2. Starke Sätze mit voyeuristischem Inhalt

Der zweite Punkt, der die Magie von Kings Romananfängen für mich ausmacht, ist die Wirkung starker erster Sätze:


  • Wahn: »Mein Name ist Edgar Freemantle. Ich war mal eine große Nummer im Baugewerbe. Das war in Minnesota, in meinem anderen Leben.«
  • Shining: »Schmieriger kleiner Scheißkerl, dachte Jack Torrance.«
  • Carrie: »Der Duschraum war erfüllt von Rufen, Gelächter und dem beständigen Prasseln des Wassers auf dem gekachelten Fußboden. Die Mädchen hatten in der ersten Unterrichtsstunde Volleyball gespielt, und ihr morgendlicher Schweiß war leicht und frisch.«

Auf den ersten Blick haben die Sätze nicht viel gemeinsam. King bedient sich bei den jeweiligen Romananfängen unterschiedlicher Techniken.

In Wahn wird erzählt, in Shining bekommen wir einen Einblick in die Gedanken der Hauptfigur und in Carrie springen wir direkt ins Geschehen. Am konventionellsten empfinde ich hier noch den Beginn von Carrie (was vielleicht nicht weiter erstaunlich ist, da es sich ja um Kings Erstling handelt).

Stephen King geht also beim Schreiben eines spannenden Romans durchaus nicht nach Schema-F vor. Trotzdem verraten diese ersten Sätze eine große Gemeinsamkeit: Meiner Ansicht nach liefern uns alle drei Beispiele Einblicke in das Leben anderer Menschen, die uns normalerweise verborgen bleiben.

Edgar Freemantle erzählt von seinem Scheitern, etwas, das sonst niemand freimütig tut. In Shining erfahren wir, was der Bewerber insgeheim von seinem potenziellen, neuen Arbeitgeber hält und in Carrie werfen wir einen Blick in die Mädchendusche einer Schule (die wenigstens rund 50% der Menschheit normalerweise verborgen bleibt).

In den drei Beispielen wird der Voyeurismus des Lesers angesprochen. King nutzt keine große äußere Action oder gar Spannungselemente, Schocks oder Ekelszenen (wie man es vielleicht von einem Horror-Autor erwarten würde), sondern beginnt damit, uns bei unserer Neugier auf das zu packen, was uns im Alltag normalerweise verborgen bleibt.

Was alles auf die ersten Seiten Ihres Romans gehört

Von der ersten Seite an einen spannenden Thriller schreiben? Den Krimi mit den ersten Sätzen packend beginnen? Diese Checkliste kann dabei helfen.

1. starker erster Satz

Der Hype um den ersten Satz ist in meinen Augen ein wenig übertrieben. Zerreißen Sie sich also nicht vor Selbstzweifeln, wenn Ihnen in Ihren Augen kein Satz einfällt, der den Leser aus den Socken pustet.

Aber es lohnt sich auf jeden Fall darüber nachzudenken, mit welchem Satz Sie Ihren Roman eröffnen.

  • Ist der Satz kurz? So rund 20 Wörter, besser noch weniger.
  • Gibt er einen Ausblick auf die Erzählstimme des Romans?
  • Besitzt er eine einfache Sprache und Zeichensetzung, ist aber trotzdem raffiniert?
  • Benutzen Sie Aktiv statt Passiv?
  • Spricht durch ihn jemand zum Leser?
  • Deutet er Interaktion an?
  • Deutet er einen Konflikt an?

Warnung!

Sie sollten nicht beim Schreiben des ersten Entwurfs Wert auf einen packenden ersten Satz legen. Das blockiert nur. Schreiben Sie munter drauf los. Verschieben Sie das Formulieren eines ersten Satzes auf die Überarbeitung. Das befreit.

Beachten Sie diese Warnung bitte auch für alle anderen Tipps.


2. spannende Eröffnung

Irgendetwas wirklich Mitreißendes sollte gleich zu Beginn geschehen. Ein paar Gedanken zu spannenden Romananfänge habe ich mir hier schon gemacht.

Das klingt vielleicht selbstverständlich, ist es aber nicht. Vor allem ist es nicht so leicht, wie es klingt. Denn damit eine Szene den Leser wirklich packt, muss er zuvor eine Verbindung zu den Figuren der Szene aufbauen. Wie soll er dies aber schaffen, wenn er das Buch gerade erst aufschlägt?

Die Lösung des Problems besteht darin, möglichst starke Reize zu präsentieren. Also

  • eine große Bedrohung
  • Ekel
  • spektakuläre Action
  • existenzielle Situation
  • ein Dilemma …

Es geht also um große Emotionen in einem starken Konflikt. Gerade Thriller-Autoren wählen deswegen häufig Mord- und Folterszenen für den Beginn Ihres Romans. Kann man machen, funktioniert häufig, nutzt sich mit der Zeit aber auch ab und ist nicht jedermanns Sache.

Eine meiner Lieblingsszenen der neueren Filmgeschichte ist die Eröffnung von »Guardians of the Galaxy Vol. 1«. Die Hauptfigur, Peter Quill, muss als kleiner Junge seiner krebskranken Mutter beim Sterben zugucken, hält dies jedoch nicht aus, rennt davon.

Keine Action, kein Ekel, dafür aber eine existenzielle Situation, die dramatischer nicht sein könnte. Sie packt den Zuschauer (zumindest mich, ich kann die Szene nie sehen, ohne zu weinen), führt die Hauptfigur ein und weckt Neugier.


Eismonster-Prologe. Eine Frage des Geschmacks

Sollte der Roman einen langsamen, ruhigen Aufbau erfordern, kann es notwendig werden, mit einer spannenden Szene zu beginnen, die zunächst (scheinbar) nichts mit der Haupthandlung des Romans zutun hat.

Dan Wells nennt dieses Prinzip den Eismonster-Prolog nach George R.R. Martins Lied von Eis und Feuer, das einen komplexen, recht gemächlichen Aufbau hat und deswegen mit einer spannenden Szene jenseits der Haupthandlung beginnt.

Das Prinzip ist auch aus jeder Folge CSI oder ähnlichen TV-Serien bekannt. Vor allem Thriller oder Krimis beginnen gerne mit einer Szene, in der gezeigt wird, wie das erste Opfer des Serienmörders umgebracht oder ein anderes Verbrechen begangen wird.


3. »Late in …«

Hatte ich bereits in diesem Artikel behandelt: Spät rein, früh raus. Beginnen Sie die Eröffnunsszene so nah wie möglich am zentralen Konflikt, ohne große Einführung. Ein alter Tipp von Drehbuchautoren.

Gilt natürlich eigentlich für jede Szene, aber auf der ersten Seite ist das natürlich noch wichtiger als im restlichen Roman.

4. Konflikt

Ohne Konflikte keine Spannung. Wenn Sie etabliert haben, was das Ziel Ihrer Hauptfigur ist, sollte es auch schon etwas geben, das dem entgegensteht.

5. Träume, Bedürfnisse, Ängste …

Romane werden unter anderem deswegen gelesen, weil sie eine Möglichkeit bieten, hinter den Schleier zu gucken. In einer Geschichte können Sie die Dinge zeigen, die uns im Alltag von unseren Mitmenschen meistens verborgen bleiben.

Nehmen Sie sich ein Beispiel an Stephen King. Er ist in meinen Augen der Meister, um Konflikte am Beginn seiner Romane zu zeigen, die uns hinter die Kulissen des Alltags blicken lassen.

Bedienen Sie den Voyeurismus Ihrer Leser, denn deswegen lesen sie. Sie wollen Menschen auf eine Weise kennenlernen, wie sie es im Alltag nicht können.

5. Hauptfigur

Ich bin prinzipiell kein so großer Freund von »Eismonster Prologen«, in denen in der Regel ja nicht die Hauptfigur auftritt (Ja, auch wenn ich in »Entfesselter Tod« einen benutzt habe. Mache ich aber so schnell auch nicht wieder, versprochen).

Ich habe es gerne, wenn innerhalb der ersten paar Sätze die Hauptfigur des Romans eingeführt wird, so dass ich auch eine Beziehung zu ihr aufbauen kann. Ich bin da von den Klassikern der Harboiled-Krimis geprägt, die meist von Anfang an aus der Perspektive der Hauptfigur erzählt werden.

Bedenken Sie, dass die Hauptfigur das Kernelement ist, dass Ihren Roman für Ihre Leser attraktiv macht. Es kann deswegen nicht schaden, sie von Anfang an zu etablieren.

6. Ziel

Was will die Hauptfigur? Was treibt sie an? Mit anderen Worten: Wieso sollte es für Ihre Leser spannend sein, ihr zu folgen? Möglichst subtil, aber doch unmissverständlich sollten Sie das auf der ersten Seite zeigen.

7. Setting

Möglichst früh muss der Leser folgende Informationen über Ihren Roman mitbekommen:

  • In welcher Welt,
  • welcher Stadt,
  • welcher Region,
  • welcher Zeit
  • oder in welchem Milieu spielt er?

Findet die Handlung in einer großen, bekannten Metropole statt, ist das weit weniger schwierig als beispielsweise bei einem Fantasyroman. Erwähnen Sie beiläufig den Times Square oder das Brandenburger Tor, weiß nahezu jeder Leser sofort, wo ihr Roman spielt.

Gepaart mit einem geschickt platzierten Attribut oder Nebensatz, können Sie sogar darauf hinweisen, zu welcher Zeit Ihr Roman spielt.

Aber auch wenn Ihr Roman in weit weniger bekannten oder gar fantastischen Regionen spielt, ist es wichtig, in möglichst knapper Form in das Setting einzuführen.


Der ungeschickteste Weg, ins Setting einzuführen

Manche Fantasy- oder Science-Fiction-Autoren führen mit einem vorangestellten Informationsblock in ihr Setting ein. Einige versuchen das dann zu tarnen, indem sie diese Informationsblöcke als Tagebucheinträge, Lexikonartikel oder als einen Auszug aus einer Chronik tarnen.

Wie geschickt Sie so etwas auch formulieren. Ein solcher Text ist und bleibt Infodump und führt zumindest bei mir dazu, dass ich so einen Roman wieder aus der Hand lege oder schlimmstenfalls erst gar nicht kaufe.

Es gibt einige Tipps gegen Infodump. Beherzigen Sie sie, auch wenn Sie in einem fantastischen Setting schreiben.

Es hat seinen Grund, wieso Tolkien den »Herr der Ringe« mit einer Geburtstagsfeier bei den Hobbits beginnt und nicht mit einem Rat der Elfen oder einem Überfall der Orcs.

Die Hobbits sind nah dran am Durchschnittstyp. Und Hobbingen ist nicht viel anders als ein englisches Dorf. Das ist eine gute Ausgangsbasis, um die fantastischeren Aspekte der Welt dann mit Frodos Augen zu entdecken.


8. Erzählstimme

Auf der ersten Seite muss auch schon deutlich werden, mit welcher Stimme der Roman erzählt wird. Mehr dazu, habe ich bereits in diesem Beitrag geschrieben.