Wie man eine verdammt gute Kurzgeschichte schreibt

Wie man eine verdammt gute Kurzgeschichte schreibt

Kurzgeschichten sind aufregend, lassen sich schnell lesen und fesseln mit einem spektakulären Augenblick, der im Zentrum steht. Dank E-Books und Selfpublishing erleben sie ein kleines Revival. Vielleicht wollen ja deswegen auch Sie eine Kurzgeschichte schreiben. Hier ein möglicher Weg, wie Sie Ideen für Kurzgeschichten finden und ausarbeiten können:

1. Clustern der Grundidee

Am Anfang von allem steht die Grundidee. Gute Grundideen für Kurzgeschichten sind herausragende, einschneidende Ereignisse, die sich gut auf den Punkt bringen lassen. Im Gegensatz zum Roman, in dem Sie lange und komplexe Entwicklungen einer Figur behandeln können, steht in der Kurzgeschichte ein einzelner Augenblick im Zentrum:

  • der erste Kuss
  • die Schwelle zum Tod
  • eine rätselhafte Begegnung
  • eine schmerzhafte Trennung
  • eine sagenhafte Entdeckung …

Das sind die Stoffe, aus denen Kurzgeschichten gemacht sind.


Was machen Sie, wenn Ihnen nichts einfällt?

Denken Sie an Ihre eigene Biografie. Prüfungssituationen, Unfälle, Anekdoten … Da gibt es bestimmt was. Oder schlagen Sie einfach die Zeitung auf. Die sind voller spektakulärer Schicksale.


Nehmen wir also an, Sie haben einen besonderen Augenblick als Grundidee. Was nun?

Ich fange in diesem Moment stets an zu clustern. Und ich würde Ihnen dringend empfehlen, das auch zu tun.


Clustering – Was ist das denn?

Um es kurz zu machen, beim Clustering – einer Methode von Gabriele L. Rico – geht es darum, von einem zentralen Begriff oder Satz aus Gedankenketten zu bilden. Eine schöne Demonstration des Clusterings gibt es in diesem Video.


Machen wir’s konkret: Ich finde die Idee eines Einbrechers spannend, der sich nachts in Häuser schleicht – jedoch nicht, um etwas zu stehlen, sondern um aus perverser Neugier das Leben anderer Menschen auszuspionieren.

Für mich ist das eine wirklich gruselige Vorstellung. Jemand Fremdes spaziert in meinem Haus herum, während ich im Nebenzimmer schlafe.

Außerdem halte ich das für einen interessanten Ansatz für eine Kurzgeschichte, denn einerseits wird der Ort der Handlung eine alltägliche Umgebung sein, eben das Zuhause eines Menschen, aber in einem ungewöhnlichen Zusammenhang.


Die Grundidee birgt das Potenzial für Außergewöhnliches im Alltäglichen, der nächtliche Einbruch in eine Wohnung oder ein Haus beschränkt die Handlung auf einen Ort und die Zeitspanne der erzählten Zeit auf höchstens ein paar Stunden. Damit wäre die Idee für eine Kurzgeschichte geeignet.


Meine Grundidee, das Thema der Geschichte, lässt sich also schlicht in einem Wort auf den Punkt bringen: Voyeurismus.

Ich schreibe »Voyeurismus« auf ein Blatt Papier, umkreise es und fange nun an, Gedankenketten zu bilden. Dabei ist es wichtig, den inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen. Jede Assoziationskette, die mir einfällt, wird aufgeschrieben, ganz ohne Wertung. Fällt mir nichts mehr ein, kehre ich in die Mitte des Blattes zurück und warte darauf, was mir als Nächstes einfällt, um eine neue Assoziationskette zu bilden.

Hier ist das Ergebnis:

Beispiel eines Clusters

Beim Clustering ist es wichtig, dass Sie Ihren inneren Kritiker zum Schweigen bringen. Jede Assoziationskette, die Ihnen einfällt, müssen Sie aufschreiben, ganz ohne Wertung. Fällt Ihnen nichts mehr ein, kehren Sie in die Mitte des Blattes zurück und warten darauf, was Ihnen als Nächstes einfällt, um eine neue Assoziationskette zu bilden.


2. Der Held

Beim Clustern habe ich erkannt, dass ich wenig Ideen zum Plot, aber viele zum Helden der Geschichte habe. Das ist nicht weiter schlimm. Ich finde, es spielt keine Rolle, ob ich mit dem Plot oder den Figuren beginne.

Ich widme mich erst einmal dem Schreiben der Biografie des Helden:

So weit, so gut. Mir genügt das. Ich verstehe jetzt den Helden und habe ihn vor Augen – und einen anderen Zweck muss die Biografie und Vorgeschichte für eine Kurzgeschichte meiner Meinung nach nicht erfüllen.

3. Die Handlung

Ich bediene mich gerne einer Struktur, um die Handlung auszuarbeiten. Für die Kurzgeschichte entscheide ich mich für dass „Sieben-Punkte-System“.

Hier eine kurze Übersicht des Sieben-Punkte-Systems:

1. Aufhänger: Das Gegenteil von der Auflösung.
2. Erste Wendung: Stellt den Konflikt vor, die Welt des Helden verändert sich, er lernt Neues.
3. Erster Kniff: Etwas geht schief und veranlasst die Figuren zu handeln.
4. Mittelpunkt: Übergang von der Reaktion zur Aktion
5. Zweiter Kniff: Erhöht den Druck, bis die Situation hoffnungslos erscheint.
6. Zweite Wendung: Der Held erhält die letzte fehlende Sache, um zu gewinnen.
7. Auflösung: Der Hauptkonflikt wird gelöst.

Diese Darstellung ist extrem verkürzt, aber ich will nicht lange über die Theorie hinter dem System philosophieren, sondern es anwenden. Wenn du in die Tiefe gehen willst und Englisch verstehst, kannst du dir in diesen Videos das Seven Point System von Dan Wells erklären lassen.

Nun fange ich an, meine eigenen Ideen mit dem Sieben-Punkte-System zu strukturieren und zu entwickeln:

1. Aufhänger: Alfred ist ein Geschäftsmann ohne Privatleben. Die emotionale Lücke füllt er mit einer Sucht: Er muss nachts in Wohnungen von Familien einbrechen, während diese darin schlafen. Für diese Nacht hat er sich etwas ganz Besonderes vorgenommen: Die Villa des Malers Richard P. Mancik. Er ist nicht nur reich und prominent, sondern auch als treuer Ehemann und Vater von vier leiblichen und zwei adoptierten Kindern bekannt.

Ich finde es sinnvoll, mich als Nächstes der Auflösung zuzuwenden. Wenn ich diese kenne, habe ich die beiden Pole der Geschichte, von denen ich alle anderen Punkte ableiten kann.

Der Aufhänger ist Alfreds Sucht. Aufhänger und Auflösung sollten in Opposition zueinander stehen, weil dies den größtmöglichen Spannungsbogen erzeugt. Also muss Alfred einsehen, dass er etwas Falsches tut und dass er seinem Leben eine andere Wendung geben muss.

7. Auflösung: Alfred erkennt, dass er pervers ist, und will sein Leben ändern.

Entscheidend für Alfreds Sinneswandel muss ein einschneidendes Ereignis sein. Denn nur durch solche können Menschen von einer Sucht lassen. Im Plot sollte dieses Ereignis in der Mitte stattfinden, also an Punkt 4, dem Wendepunkt der Geschichte. Da Liebe in seinem Leben fehlt und dieser Mangel ihn in seine Sucht treibt, ist es naheliegend, welches Ereignis seinen Sinneswandel am Ende der Geschichte bewirkt:

4. Mittelpunkt: Alfred verliebt sich.

Es liegt es auf der Hand, was noch fehlt: eine Frau, in die sich Alfred verlieben kann.

3. Erster Kniff: Es geschieht etwas, das Alfred bisher noch nie passiert ist: Er wird beim Einbrechen erwischt – von der Ehefrau des Malers, Patrizia.

Mir gefällt die Idee, dass sich Alfred Hals über Kopf in die Frau des Malers verliebt, denn das bietet Konfliktpotenzial. Aber es ist zu früh, um mir selbst auf die Schulter zu klopfen. Es fehlt noch Einiges, wie zum Beispiel die erste Wendung, in der sich die Alltagswelt des Helden durch die Vorstellung des Konfliktes verändert, also das Bindeglied zwischen Punkt 1 und 3.

2. Erste Wendung: Alfred findet in der Villa Manciks eine private Galerie mit abstrakten Bildern, die nicht zum restlichen Portfolio des Malers passen. Die Bilder verstören ihn und wühlen ihn auf, ohne dass er genau sagen kann, wieso.

Ich kehre zurück zum Mittelpunkt. Alfred hat sich hier verliebt, aber die Geschichte würde recht langweilig werden, wenn damit alles vorbei wäre. In solchen Momenten drängt sich mir stets Raymond Chandlers altbekannter Rat auf, der da sinngemäß lautet: Wenn du nicht weiter weißt, lass einen Mann mit einem Revolver in der Hand durch die Tür kommen.

5. Zweiter Kniff: Mancik taucht auf und erwischt die beiden, die sich unvorsichtig verhalten haben. Er missdeutet die Situation und glaubt, dass seine Frau ihn betrügt. Er bedroht beide mit einem Revolver.

Nun liegt auch auf der Hand, worin die letzte Wendung bestehen wird: Alfred muss Mancik davon überzeugen, ihn und Patrizia am Leben zu lassen, gleichzeitig aber für seine Liebe kämpfen.

6. Zweite Wendung: Alfred versucht Mancik dazu zu überreden, Patrizia und ihn zu verschonen.

Noch sind diese Ideen abstrakt, unsortiert und bruchstückhaft. Deswegen ordne ich sie jetzt der Reihe nach zu einem Stufendiagramm und gestalte sie noch ein wenig detaillierter aus:

1. Aufhänger: Alfred ist ein Geschäftsmann ohne Privatleben. Die emotionale Lücke füllt er mit einer Sucht: Er muss nachts in Wohnungen von Familien einbrechen, während diese darin schlafen. Für diese Nacht hat er sich etwas ganz Besonderes vorgenommen: die Villa des Malers Richard P. Mancik, der nicht nur reich und prominent ist, sondern auch als treuer Ehemann und Vater von vier leiblichen und zwei adoptierten Kindern bekannt ist.
2. Erste Wendung: Alfred findet in der Villa Manciks eine private Galerie mit abstrakten Bildern, die nicht zum restlichen Portfolio des Malers passen. Die Bilder verstören ihn und wühlen ihn auf, ohne dass er genau sagen kann, wieso.
3. Erster Kniff: Es geschieht etwas, das Alfred bisher noch nie passiert ist: Er wird beim Einbrechen erwischt – von der Ehefrau des Malers, Patrizia.
4. Mittelpunkt: Alfred verliebt sich auf den ersten Blick in Patrizia. Patrizia ist natürlich wenig begeistert, wirkt aber erstaunlicher Weise eher um Alfred besorgt, als verängstigt oder wütend. Sie bittet ihn dringend, sofort zu verschwinden.
5. Zweiter Kniff: Mancik taucht auf und erwischt die beiden. Er missdeutet die Situation und glaubt, seine Frau betrüge ihn. Er bedroht beide mit einer Waffe.
6. Zweite Wendung: Alfred versucht Mancik dazu zu überreden, Patrizia und ihn zu verschonen, denn …
7. Auflösung: … Alfred erkennt dank der neu entfachten Liebe, dass er pervers ist und will sein Leben ändern. Er gelobt Besserung und bereut sein Handeln.

Das Stufendiagramm ist noch fragmentarisch und lässt eine Menge Lücken, aber jetzt habe ich einen Plan, mit dem ich arbeiten kann. Vor allem für das Ende muss ich mir noch eine Pointe ausdenken, die der ganzen Sachen mehr Pfiff verleiht.

Bleibt noch zu betonen, dass dies keineswegs der Plot der fertigen Geschichte sein muss – und aller Wahrscheinlichkeit auch nicht sein wird. Ich sehe das Stufendiagramm als ein Hilfsmittel, das ich beim Schreiben benutzen kann, aber nicht muss.