
Manchmal gibt es schicksalshafte Augenblicke, denen man sich erst im Nachhinein so richtig bewusst wird. Letztens hatte ich Geburtstag und ein Geschenk markierte einen ganz besonderen Moment für meine Leidenschaft also Old School Fantasy Fan.
Ich bekam »Knaus Buch der Rollenspiele« geschenkt. Und zwar, wie mir erst später bewusst wurde, ziemlich genau 40 Jahre, nachdem ich es zum ersten Mal gelesen hatte. Ein Grund für mich über diesen besonderen Ereignis und dieses besondere Geschenk zu schreiben, auch wenn das Buch, nun ja, wirklich old school ist.
Ein Buch wie ein kleines Relikt
»Knaurs Buch der Rollenspiele« erschien 1983 und wurde von den deutschen Rollenspiel-Pionieren Jürgen Franke und Werner Fuchs herausgegeben. Wie unschwer zu erraten ist, publizierte es der Knaur Verlag, es kostete damals 7,80 DM und hat 240 Seiten.
Man könnte sagen, »Knaurs Buch der Rollenspiele« wurde von den deutschen Großvätern des Hobbys erschaffen. Das Buch ist, nüchtern betrachtet, ein populärwissenschaftlich aufgemachtes Überblickswerk über diese damals noch sehr junge Nische der Spielebranche.
Es ist kein Zufall, dass Knaur dieses Sachbuch veröffentlichte. Zusammen mit Schmidt-Spiele brachte der Verlag in den 1980ern Das Schwarze Auge (DSA) heraus – bereits damals das erfolgreichste Rollenspiel auf dem deutschen Markt.
Insofern ist »Knaurs Buch der Rollenspiele« zu einem gewissen Teil eine große Werbebroschüre für DSA. Aber eine sehr liebevolle und eine, die trotzdem auch Konkurrenzprodukte ausführlich und enthusiastisch darstellt.
Über die Autoren muss man wissen, dass Jürgen Franke der Erfinder von Midgard, dem allerersten deutschen Rollenspiel ist.
Werner Fuchs wiederum ist eine echte Größe in der deutschen Science-Fiction- und Fantasy-Szene. Er war unter anderem Literaturagent für George R.R. Martin und hat auch sonst gefühlt überall seine Finger im Spiel, wenn in Deutschland irgendwo SF oder Fantasy draufsteht. Vor allem ist er einer der Mitbegründer von DSA.
Gerade wegen der unglaublichen Autorität der beiden Herausgeber und Mitautoren erschien mir das Buch als Jugendlicher wie ein Schlüssel zur Welt des Hobbys Fantasy-Rollenspiel. Plötzlich gab es klare Begriffe, Namen von Spielen, Hinweise auf Spielleitertechniken und Beschreibungen fremder Spielwelten.
Vor allem waren es Erwachsene, die hier mit allem Ernst ein Thema behandelten, das von meinem restlichen Umfeld als Kinderkram heruntergespielt wurde.
In einer Zeit vor dem Internet und Foren (von sozialen Medien ganz zu schweigen) war so ein Buch für mein Wissen über Rollenspiele, aber auch für mein Selbstwertgefühl als Fantasy-Fan und Rollenspieler Gold wert.
Es ordnete ein, gab Orientierung und weckte Neugier auf noch mehr Regelwerke, Abenteuer und Spielwelten. Dieses Gefühl stellte sich auch in der Gegenwart bei mir beim erneuten Lesen wieder ein.
Ein Kaleidoskop der Anfänge des Hobbys
Das Buch ist in Kapitel gegliedert, die thematisch unterschiedliche Aspekte beleuchten:
- die Geschichte des Rollenspiels,
- Porträts bekannter Systeme (vor allem die frühen, angloamerikanischen Titel),
- Beiträge zu Spielbüchern,
- Überblicke zur damaligen Szene und verwandten Genres wie Fantasy-Brettspiele und -Computerspiele
Es ist eher Magazin/Enzyklopädisch als monografisch — ein Sammelsurium von Texten, das einen schnellen Überblick verspricht. Wer eine einzige, definitive Theorie des Rollenspiels sucht, wird enttäuscht; wer jedoch Einblicke in die Vielfalt und die Szene jener Zeit möchte, ist bestens bedient.
Eingeleitet wird das Buch mit einem Kapitel von Jürgen Franke, das Entstehung und Entwicklung des damals noch jungen Hobbys dokumentiert und einordnet. Kurz, aber auch heute noch lesenswert
Im Anschluss gibt es das meiner Meinung nach eigentlich Herzstück des Buches ein fünfzigseitiges DSA-Solo-Abenteuer von Ralf Arnemann und Michael Blumöhr, das ich natürlich damals rauf und runter gespielt habe und das ich auch heute noch für spielenswert halte.
Die vergessene Kunst der Soloabenteuer
In den frühen 1980ern war es fast selbstverständlich, dass große Rollenspiele ein Solo-Abenteuer enthielten. Statt lange zu erklären, was Rollenspiel ist, konnte man es einfach spielen. Ein genialer Einstieg für Neulinge.
Natürlich ersetzt so ein Solo-Abenteuer keine Tischrunde, doch es vermittelt genug, um Neugier zu wecken und Lust auf mehr zu machen. Bei mir jedenfalls hat das als Teenie wunderbar funktioniert.
Leider ist diese gute Sitte in den 1990ern fast verschwunden. Spiele wie Shadowrun oder Vampire: The Masquerade wandten sich an ein erfahreneres Publikum und nahmen Neulinge kaum noch an die Hand. Die obligatorischen Einsteigerkapitel waren Alibi-Texte, die weder Veteranen noch Anfänger wirklich etwas brachten. Rückblickend wirkte die Szene damals ohnehin elitärer – man wollte unter sich bleiben, nicht massentauglich werden.
Von alten Spielen und der frühen Szene
Zurück zu »Knaurs Buch der Rollenspiele«. In ihm werden nach dem Solo-Abenteuer auf ebenfalls rund 50 Seiten die seinerzeit gängigsten Rollenspiele vorgestellt:
Das Kapitel wird abgeschlossen mit einem Überblick über die US-amerikanische und britische Rollenspielszene.
Etwas reumütig habe ich festgestellt, dass ich eigentlich nie richtige Sternengarde gezockt und Schwerter & Dämonen auch bis heute nicht so richtig auf dem Schirm habe, obwohl ich diese Spiele ja nun seit vier Jahrzehnten kenne.
Ich finde dieses Kapitel heute noch lesenswert. Spiele wie Schwerter & Dämonen und Sternengarde sind heute zwar eher irrelevant. Alle anderen haben sich aber durchaus als Klassiker bewährt. Insofern ist ihre Vorstellung zwar etwas angestaubt, aber in den Grundzügen durchaus noch angemessen.
Aber natürlich sind diese Texte hauptsächlich von historischem Interesse.
Das gilt umso mehr für die folgenden Kapitel, in denen es um Spielbücher, Computerspiele, Brettspiele, Zeitschriften und Kontakte und Bezugsquellen geht. Diese Texte sind nur für Menschen wie mich interessant, die noch einmal daran erinnert werden wollen, wie das Hobby vor der Ankunft des Internets gelebt wurde, oder die wissen wollen, wie das damals so war.
Für wen ist das Buch heute noch nützlich?
Ob du dir die Mühe machen solltest, das Buch noch zu erwerben, hängt davon ab, ob du zu einer folgenden Gruppen gehörst:
- Historiker und Sammler: Wer die Entwicklung der Rollenspielkultur nachvollziehen will, bekommt hier einen prima Primärtext. Die Texte spiegeln Begriffe, Vorlieben und Grenzen der 1980er wider.
- Nostalgiker wie mich: Es fühlt sich gut an, die eigene Jugend noch einmal in denselben Worten zu lesen. Wer seine frühen Ambitionen versteht, versteht oft besser, warum er heute noch spielt.
- Einsteiger mit historischem Interesse: Wenn du einem jungen Spieler von heute zeigen willst, wie alles einmal begann (nicht nur die Regeln, sondern die Kultur), ist dieses Buch ein schönes Anschauungsstück.
Rollenspiele sind ein Teil der Sub-, Pop- und Indy-kultur. Und wer heute in das Hobby einsteigt und nicht bloß spielen, sondern sich etwas tiefergehender und ernsthafter damit beschäftigen möchte, der macht mit diesem Buch nichts falsch.
Wer heute anfangen will, sich zum Beispiel intensiv mit Punkrock zu beschäftigen, kommt ja auch an den Ramones oder den Sex Pistols nicht vorbei.
Fazit: Ein Buch wie ein alter Freund
»Knaurs Buch der Rollenspiele« ist kein ultimatives Werk. Es ist vielmehr ein Fenster in eine Bewegung, die sich damals formierte. Vor allem spiegeln die Texte eine Leidenschaft wider, die bis heute bei vielen Menschen, die Rollenspiele spielen, bei der Stange hält. Mich zum Beispiel.
P.S.: Das Buch hinterlässt eine schmerzliche Lücke
Tatsächlich gibt es im deutschsprachigen Bereich keinen echten Nachfolger für »Knaurs Buch der Rollenspiele«. Am nächsten kommt noch das Buch »Drachenväter« von Tom Hillenbrand und Werner Fuchs. Das ist aber eher ein journalistisches Buch mit vielen bunten Bildern darin, das die Geschichte des Hobbys nachzeichnet. Nicht schlecht, aber halt nicht ganz das Gleiche.
Eigentlich schade.
Ich würde mir ein aktuelles Buch wünschen, das sowohl junge Menschen an das Hobby heranführt, wie es »Knaurs Buch der Rollenspiele« mit dem Soloabenteuer versucht, gleichzeitig aber auch einen Überblick gewährt.
Es müsste ein Buch mit zahlreichen coolen Illus und entsprechender bunter Gestaltung sein, eines, das zum Lesen, Spielen und Träumen einlädt, und darüber hinaus das Hobby in seiner gesamten Breite vorstellt.
Vor allem Texte über Live Action Rollenspiele (LARP) fehlen in »Knaurs Buch der Rollenspiele«. Verständlich, denn zum Veröffentlichungszeitpunkt war das Hobby keine große Sache. Heute würde ich vermuten, ist LARP mindestens eine genauso große Cumminity wie Pen & Paper mit einer sehr großen Schnittmenge.
Aber vielleicht bin ich der einzige, der sich so ein Buch wünscht. Falls es doch einen Verlag gibt, der ein solches Buch produzieren mag, ich melde mich gerne freiwillig, um es zu schreiben.
P.P.S.: Oh, toll, wie kriege ich denn das Buch heute?
Tja. Das ist ein Problem. Man kommt wirklich nur noch sehr, sehr schwer dran. Im online Antiquariat zahlt man locker dreistellige Beträge dafür. Vielleicht stößt man mal auf dem Flohmarkt drauf und hat Glück, dass jemand es verkauft, der nicht weiß, welchen Schatz er da auf dem Tapeziertisch hat.
Es dürften wirklich nur noch wenige Exemplare auf dem Markt sein. Aber das ist ja auch eine der schönen Seiten des Lebens eines Old School Fantasy Fans. Es gibt so Schätze, denen man nachjagt, an die man nicht leicht kommt.
Um so cooler, wenn man so einen einfach zum Geburtstag geschenkt bekommt.