Einerseits ist Fairy Tale ein Roman, wie ich ihn vom inzwischen 75jährigen Stephen King nicht mehr erwartet hätte. Andererseits ist er aber auch typisch für ihn. Es wundert mich also nicht, dass die Kritiken den Roman entweder als Geschwafel oder als Geniestreich bezeichnen. Wer hat recht?

Eine Geschichte über Verlust, Liebe und die Suche nach Heilung
Auf rund 900 Seiten wird in Fairy Tale von Stephen King, erschienen 2023 im Heyne-Verlag, vom siebzehnjährigen Charlie Reade erzählt. Mit sieben verlor er seine Mutter. Sein Vater wurde Alkoholiker, aber mit der Zeit gelingt es Charlie, ihn von der Flasche wegzubringen.
In dieser Situation lernt Charlie Mr. Bowditch kennen. Einen griesgrämigen alten Herren, der pflegebedürftig ist, der das aber nicht einsieht (und welcher Pflegebedürftig tut das schon …). Da Charlie aber einen Deal mit Gott hat, dass er, wenn sein Papa vom Alkohol loskommt, dafür eine gute Tat vollbringen wird, beginnt er, sich um Mr. Bowditch zu kümmern.
Es entwickelt sich eine ungleiche Freundschaft, wie sie halt nun einmal der Stoff für Romane ist.
So weit so spannend. Allein diese ersten rund 300 Seiten des Romans, haben mich total abgeholt. Charlie Schicksalsschläge, sein Kampf, einerseits mit dem Tod seiner Mutter fertig zu werden und auch zusammen mit seinem Vater gegen den Alkohol und die Annäherung zu Mr. Bowditch werden von King so meisterhaft erzählt, wie man es von ihm nun einmal kennt.
Liest man nicht mehr als dieses erste Drittel, hat man meiner Meinung nach eigentlich schon einen richtig guten Roman gelesen.
Echos der Vergangenheit
King wäre aber nicht King, wenn es nach den 300 Seiten nicht noch so richtig abgehen würde. Wo andere sich schon auserzählt haben, hat King sich gerade erst warm geschrieben.
Hier besteht allerdings vielen Kritiken nach zu urteilen der erste Schwachpunkt der Geschichte. Zu langatmig sei der Einstieg. Zu krass der Bruch mit der restlichen Story.
Ich kann zwar nachvollziehen, wie man darauf kommen kann. Aber ich persönlich teile diesen Leseeindruck nicht. Es ist für Stephen King vollkommen typisch, dass eine Story in der realen Welt mit echten Problemen beginnt und dann das Übernatürliche langsam in die Realität einsickert.
Fairy Tale ist da nicht anders als beispielsweise Friedhof der Kuscheltiere oder der in meinen Augen wesentlich coolere Roman Wahn. Vor allem erinnert Fairy Tale mich hier an Der Anschlag, wobei es Charlie halt nicht in die 1960er Jahre, sondern eben in das titelgebende Märchenreich verschlägt.
Klar, wenn man Kings Klassiker wie Shining oder Misery als Maßstab nimmt oder bei seinem Namen eher an The Stand, Carrie oder an neuere Ausnahmewerke wie Mr. Mercedes denkt, dann wirkt Fairy Tale eher befremdlich. Aber es gibt nun einmal verschiedene Roman-Archetypen in seinem Oeuvre.
Fairy Tales Archetyp hat King in den letzten Jahrzehnten nicht mehr so häufig so radikal bedient. Deswegen ist er für manche vielleicht in Vergessenheit geraten. Aber wer wie ich mit Talisman aufgewachsen ist, fühlt sich bei Fairy Tale schnell zu Hause.
Es geht in Fairy Tale (allerdings nur vordergründig) im Vergleich zu dem von der Kritik ja durchweg gelobtem Anschlag nicht um Politik, sondern eher um Eskapismus. Allerdings lässt sich das Märchenreich Empis auch als eine Allegorie auf das Trump-Amerika lesen, wohingegen die reale Welt das »gute, alte« Amerika aus Kings Jugend im ersten Drittel des Roman als Kontrast gegenübergestellt wird.
Mit Fairy Tale kehrt Stephen King also zu seinen Wurzeln zurück. Der Roman atmet meiner Meinung nach nicht zufällig die achtziger Jahre. Damit passt er gut zum Stranger-Things-Hype und weckt schon allein deswegen beim Lesen nostalgische Gefühle. Ich jedenfalls habe mich gleich wieder wie ein Zwölfjähriger gefühlt, der auf dem Sofa rumlümmelt und Talisman schmökert.
Die Nostalgie ist auch literarisch durchaus sinnvoll. Denn letztendlich geht es in Fairy Tale auch um Werte. Und natürlich steht das Bild Amerikas aus den 1980er Jahren als utopisches Gegenstück zur Gegenwart für eine verklärte und wenigstens teilweise unrealistische Perspektive.
Doch King tappt im gesamten Roman nicht in die Falle des Schwarz-Weiß-Denkens, sondern zeigt auch immer wieder das Gute im Bösen und umgekehrt. Somit ist meiner Meinung nach die Nostalgie nicht als einfache Rückwärtsgewandtheit zu verstehen, sondern eher als eine Metapher.
Die Heldenreise in Fairy Tale: Authentisch und roh
Langer Rede kurzer Sinn: Ich konnte mit der Vorgeschichte viel anfangen. Aber nicht allein wegen der Gefühlsduselei. Das erste Drittel trägt meiner Meinung nach dazu bei, dass Charlie nicht nur ein Märchenprinz ist, der die Welt rettet (was nämlich im Laufe der Handlung buchstäblich passiert).
Charlie Reade wird in dieser Vorgeschichte zu einer vielschichtigen Figur entwickelt. Jemand, der Einiges durchgemacht und Gutes vollbracht hat. Nur eben nicht unbedingt aus moralisch einwandfreien Gründen. Und manchmal hat er auch einfach eher Mist gebaut oder macht etwas weniger Gutes, aber aus den richtigen Gründen.
Mit anderen Worten: Die Hauptfigur in Fairy Tale ist ein echter Mensch. Das ist wichtig festzuhalten, denn im weiteren Roman ist er dann eher ein Übermensch oder leistet zumindest Übermenschliches.
Aber es wird in der Vorgeschichte gezeigt, warum er jemand ist, der nie aufgibt. Wie er in die Rolle als Held hineinwächst und wie hart, und teils auch schmutzig, er sich diese erarbeiten muss. Das ist vielschichtiger und packender als die Entwicklung der meistens anderen Helden in Fantasy-Storys.
Ich neige also dazu, diese lange Vorgeschichte als genialen Kunstgriff zu werten. Und empfand sie weder als langatmiges Geschwafel noch als überflüssig.
Empis: Wenn die Gebrüder Grimm auf Quentin Tarantino treffen
Nachdem Charlie die Schwelle in die Märchenwelt Empis übertreten hat, geht es permanent darum, Fantasy- und Märchen-Klischees aufzugreifen, aber auch darum, sie zu brechen. Dieses Spiel mit Märchenelementen und -motiven, gefällt mir.
Fairy Tale ist letztendlich, wie der Titel ja subtil andeutet, im Kern ein Märchen, aber nicht eines, wie die Gebrüder Grimm es erzählt hätten. Eher eines, wie sie es beim Sammeln ihrer Hausmärchen vielleicht erzählt bekommen haben und dann dachten: »Meine Güte, das ist ja nun echt nichts für Kinder. Nehmen wir die gruseligen Sachen lieber raus.«
Aber etwas konkreter: Charlies Pflegefall Mr. Bowditch hat ein Geheimnis gehütet. In seiner Gartenlaube kann man in eben diese andere Welt Empis gelangen. Und in Empis gibt es eine Chance, die kranke und altersschwache Hündin Radar zu retten, wie Charlie nach Mr. Bowditchs Tod erfährt.
Und da Charlie weder seine Mutter noch Mr. Bowditch retten konnte, will er wenigstens Bowditchs alte Radar nun zu einer zweiten Chance verhelfen, wie es ihm bei seinem Vater schon einmal gelungen ist.
Und von jetzt an haben wir es mit eben jener abgefahrenen Fantasy-Geschichten zu tun, die ich bereits angedeutet habe. Denn die Welt, in die Charlie aufbricht, ist zwar eine Märchenwelt. Aber sie wirkt wie aus einem Disney-Film entsprungen, bei dem man Quentin Tarantino das Drehbuch schreiben ließ und Robert Rodriguez in den Regiestuhl setzte.
Mit anderen Worten: Es geht ab. Wer schon immer gerne lesen wollte, wie ein Siebzehnjähriger auf einem Quad mit einem Revolver auf Riesinnen schießt, der wird hier seine helle Freude haben.
Letztendlich spiegelt der zweite, wesentliche längere Teil aber auch den ersten. Denn es geht immer wieder um die Motive Verletzung, die Überwindung von bzw. das Zurechtkommen mit Krankheit und die Sehnsucht nach Heilung und, ja, eben auch um Liebe. Wie alle guten Geschichten mit dieser Thematik geht es vor allem ums Durchhalten, auch wenn es keine Perspektive gibt.
Und da kann man in Fairy Tale halt eben auch die politische Ebene erkennen, wenn man das möchte. Denn subtil lassen sich immer wieder auch Parallelen zum Trump-Amerika ziehen, das King in Fairy Tale ganz offensichtlich als Krankheit identifiziert. Die Lösung hat er aber halt nun auch parat. Sie besteht in einem langen, verlustreichen Kampf, der seinen Helden viel abverlangt.
Eine weitere Lesart drängt sich auf, wenn man weiß, dass Fairy Tale auch unter dem Eindruck der Covid-Pandemie und der Quarantänemaßnahmen entstanden ist.
Wer nun glaubt, dass Fairy Tale als modernes Märchen und gleichzeitig aber auch als eine Karikatur von Märchen ein Happy End haben müsste, der sei hier milde gespoilert: Es gibt keins. Nun ja, zumindest kein reines Happy Ende. Aber mehr möchte ich über das Ende lieber nicht verraten.
Fazit
Abgesehen von vielen Momenten, die Freunde des schlechten Geschmacks glücklich machen, besitzt die gesamte Geschichte schlichtweg das, was ich von richtig guter Fantasy erwarte. Das Untypische im Typischen.
So ziemlich jedes Fantasy- (und auch Horror-) Klischee wird bedient, aber halt eben auch immer wieder mit einem neun Twist versehen. Wie bei King durchaus üblich erfolgt das alles auch nicht unbedingt subtil. Seine Anleihen an H.P. Lovecraft Cthulhu-Mythos sind mehr als nur explizit.
Die ergreifende Hauptfigur, das originelle Setting, und nicht zuletzt Kings Sprache, die ich gerne lese, machten das Buch für mich zu einem echten Lesevergnügen, wie ich es schon lange nicht mehr verspürt habe. Wie man vielleicht merkt, hat mich der Roman begeistert.
Somit ist Fairy Tale meiner Meinung nach einer der besten Stephen-King-Romane seit Langem. Er ist gruselig, absurd, vielschichtig, humorvoll, gefühlvoll und handwerklich hervorragend komponiert. Mit anderen Worten ist Fairy Tale eindeutig ein Geniestreich und kein Geschwafel.
Wer Letzteres Behauptet, hat die Geschichte meiner Meinung nach nicht aufmerksam genug gelesen oder hat schlichtweg für die brachialen Motive und die grobe Art, wie King sie verbrät, nichts übrig. Das ist natürlich Geschmacksache. Aber dass Fairy Tale nicht gut konstruiert und geschrieben wäre, kann man meiner Meinung nach nicht ernsthaft behaupten.
Denn immerhin hat dieser Roman sogar ein hervorragendes und vielschichtiges Ende. Und das kann man nun wirklich nicht von jedem Stepehen-King-Roman sagen.
P.S.: Das war’s noch nicht mit Charlie Reade
Der Vertrag für eine Verfilmung ist bereits unter Dach und Fach. Ich jedenfalls freue mich darauf, nach Empis zurückzukehren.