Heute noch unterhaltsame Perle der Old School Fantasy oder aus der Zeit gefallen?

Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit (frz.: Le Cycle de la Quête de l’Oiseau du Temps) ist eine französische Fantasy-Comicreihe, die von Serge Le Tendre geschrieben und von Régis Loisel gezeichnet wurde. Auf Deutsch erscheint sie beim Carlsen Verlag und hier rezensiere ich den ersten Sammelband »Die Suche«, der 2021 erschienen, 240 Seiten stark und für 40 Euro erhältlich ist.
Erstmals 1983 veröffentlicht gehört die Serie zu den großen Werken der europäischen Comic-Kultur. Die Reihe ist in meinen Augen ein Paradebeispiel für Old School Fantasy, die richtig Spaß macht. Aber kann eine Geschichte aus den 1980ern noch heute überzeugen?
Auftakt einer langlebigen Serie
Von Umfang, Tiefe und Geschlossenheit her kann man diesen Sammelband durchaus als gleichwertig gegenüber einem Fantasy-Roman ansehen. Heutzutage nennt man so was Graphic Novel.
»Die Suche« umfasst die ersten vier Alben der Serie, die zwischen 1983 und 1987 erschienen sind. Diese Bände bilden den ersten Zyklus der Geschichte, in dem es um die Suche nach dem titelgebenden Vogel der Zeit geht.
Die Zauberin Mara, Hüterin der Welt Akbar, erkennt, dass der finstere Gott Ramor bald aus seinem magischen Gefängnis entkommen wird. Damit sie Zeit gewinnen kann, um den Gott für immer zu bannen, muss der titelgebende Vogel gefunden werden.
Mara beauftragt ihre Tochter Pelissa und den ehemaligen Krieger Bragon, ihre frühere Liebe und wahrscheinlich Pelissas Vater, mit dieser Mission. Zusammen machen sie sich auf die gefährliche Suche.
Im Verlauf ihrer Reise stoßen Pelissa und Bragon auf zahlreiche Hindernisse. Im Tal der Vergessenen stehen sie einem mysteriösen Tempel und seinen fatalen Prüfungen gegenüber. Dabei geraten sie nicht nur in tödliche Gefahren, sondern auch in Intrigen und psychische Konflikte.
Das Ei der Finsternis, ein mächtiges Artefakt, wird im letzten Band zum Schlüsselfaktor im Kampf gegen die drohende Apokalypse. Schlussendlich werden alte Geheimnisse enthüllt, insbesondere die Vergangenheit von Bragon und Mara, die schließlich mehr mit der Handlung zu tun hat, als man zunächst ahnt.
Am Ende gibt es einige ziemlich überraschende und auch herzergreifende Wendungen, die, wenn man sich die Handlung rückblickend noch einmal vor Augen führt, auch gut vorbereitet wurden.
Essenzielle Old School Fantasy
Old School Fantasy zeichnet sich ja unter anderem durch eine hohe Dichte klassischer Fantasyelemente, wie Questen, Schwertkämpfer, Magie und mythologische Kreaturen, aus. Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit beinhaltet all diese Merkmale und kombiniert sie vor allem in seiner Bildsprache sehr eigenständig.
Insbesondere die grafische Gestaltung versprüht bis ins letzte Detail Old School Charme. Dieser reicht von der Idylle nahezu tolkienesker Landschaften, über die stereotypen Zeichnungen der Charaktere bist hin zur Gestaltung von Textboxen als alte Schriftrollen.
Die Reise der Helden folgt stark dem Muster der archetypischen Fantasy-Questen: Eine kleine, illustre Gruppe begibt sich auf eine gefährliche Mission, die den Verlauf der Welt verändern könnte.
Trotzdem fühlt sich auch heute noch dieses Element der Handlung dank des düsteren Einschlags der Geschichte und der grafisch sehr originellen Gestaltung weder schal noch abgegriffen an.
Das liegt auch am Setting. Akbar ist eigenständig, dunkel und rau. Es gibt keine klaren Grenzen zwischen Gut und Böse, die Charaktere sind von inneren Konflikten zerrissen, und die Welt selbst ist tödlich und unberechenbar.
Dabei begehen Le Tendre und Loisel nicht den Fehler, ihr klassisches Handlungsgerüst, auch noch mit Elfen, Orks und Drachen auszuschmücken. Andererseits verfallen sie auch nicht in nüchterne Sword & Sorcery, die eher an Mittelalter mit einer Prise Magie erinnert.
Sie besiedeln ihre Fantasy-Welt mit noch nie zuvor gesehener Kreaturen, die vor allem auch nicht einfach nur Tiermenschen sind oder an andere aus der Mythologie bekannte Monster erinnern.
Das kreative Team erschafft komplett neue und originelle Wesen, was dem visuellen Lesevergnügen sehr gut tut. Die Exotik der Schauplätze erinnert eher ein bisschen an die Planeten bei Star Wars als an die seit Tolkien üblichen Hügel, Berge, Flüsse und Ebenen. Alles wirkt frisch, so dass man beim Lesen das Gefühl hat, eine neue Welt zu erkunden.
Ein Element, das die Serie in die Tradition der Old School Fantasy einreiht, ist die Darstellung der Magie in Akbar. Sie ist zwar allgegenwärtig, aber sehr geheimnisvoll, undurchschaubar und nicht immer verlässlich.
Figuren wie die Zauberin Mara und verschiedene magische Kreaturen agieren undurchsichtig und folgen ihren eigenen Plänen. Es gibt eine gewisse Unergründlichkeit, die wohlig an das frühe Dungeons & Dragons erinnert und weniger an das moderne D&D, in dem Magie eher dazu genutzt wird, de Spielercharakteren Superkräfte zu verleihen.
Die Köpfe hinter der Serie: Le Tendre und Loisel
Autor Le Tendre kombinierte in Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit klassische Fantasy-Motive mit einem psychologischen Tiefgang, der zu dieser Zeit im Comic-Bereich eher selten war. Man darf nicht vergessen, dass zu Beginn der 1980er Jahre Comics noch für die meisten Menschen nur Kinderkram waren.
Deswegen ist es erstaunlich, dass die Charaktere keine strahlenden Helden, sondern Personen mit Widersprüchen und Unsicherheiten sind. Dies verleiht dem Comic eine emotionale Ebene, die auch Jahrzehnte nach der Veröffentlichung noch überzeugt.
Zeichner Loisel brachte zudem seine Liebe zum Detail und eine einzigartige Handschrift in das Werk ein. Seine Arbeiten reihen sich in die der klassischen Künstler der frankobelgischen Comicszene ein, insbesondere von Moebiust. Doch auch amerikanische Einflüsse wie Will Eisner oder Frank Frazetta spiegeln sich wider.
Macht man sich bewusst, dass der Comic inzwischen gute 40 Jahre alt ist, ist es faszinierend, auf welch hohem künstlerischen und vor allem handwerklichen Niveau schon damals frankobelgische Zeichner arbeiteten. Zu einer Zeit, in der US-amerikanische Comics eher durch Strichmännchen geprägte Massenware sind, legen Leute wie Loisel detailverliebte und eigenständige Kunstwerke vor.
Selbst als großer Fan der ungefähr gleichzeitig erschienen The Sandman-Reihe muss ich gestehen, dass Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit Künstlerich die amerikanische Konkurrenz Lichtjahre voraus ist.
Es hilft allerdings auch ein wenig, dass die ersten beiden Alben für den Sammelband neu koloriert wurden. An Band 3 und 4, bei denen man auf diese Bearbeitung verzichtet hat, lässt sich erahnen, dass das visuelle Vergnügen doch nicht so ganz ungetrübt gewesen wäre.
Trotzdem sind das eher geringfügige Abstriche von ansonsten optisch extrem stimmungsvoller Fantasy, deren künstlerische Umsetzung beeindruckt.
Langfristige Wirkung und Bedeutung für das Genre
Die vielschichtige Figurenzeichnung und die düstere, oft melancholische Stimmung beeinflussten spätere Werke, sowohl in Comics als auch in der Fantasy-Literatur. Zudem wird Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit häufig als Inspiration für Videospiele und Rollenspiele genannt, die auf der Kombination von Questen, dunkler Magie und moralischer Ambiguität aufbauen.
Somit ist Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit zwar klassische Old School Fantasy, innerhalb dieses Genres aber eher vergleichbar mit Michael Moorcocks Elric und weniger mit dem Herrn der Ringe und schon gar nicht mit den zahlreichen amerikanischen Nachahmern Tolkiens.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass der Comic zur sogenannten bande dessinée adulte (Comics für Erwachsene) beitrug, einem Trend in den 1980er Jahren, der Comics von Kinderunterhaltung hin zu ernstzunehmenden literarischen Werken entwickelte. Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit konnte sich damit auch international einen Namen machen und wird bis heute in verschiedenen Sprachen veröffentlicht.
Fazit
Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit ist weit mehr als ein Abenteuercomic. Es ist ein Meilenstein der Old School Fantasy, das die Essenz des Genres mit epischen Questen, moralischen Konflikten und einer faszinierenden, eigenständigen und dunklen Welt einfängt. Es hat sowohl im Comicbereich als auch das Fantasy-Genre als Ganzes beeinflusst.
Für Freunde der Old School Fantasy also auf jeden Fall lohnenswert, für ein modernes Publikum, vermute ich, durchaus auch noch unterhaltsam, da der Comic für spätere Fantasy prägend gewesen ist und einige originelle Elemente aufweist.
P.S.: Zu viel Salz in der Suppe?
Eine Hürde gibt es für ein moderneres Publikum bei der Lektüre des Comics jedoch vielleicht zu nehmen: Humor. Nicht nur die Zeichnungen erinnern an Karikaturen, auch Handlung und Dialoge triefen vor Ironie, die teilweise bis zum Schenkelklopfer ausgereizt wird. Für jemanden wie mich, der mit Actionkomödien, Monyt-Pyhton-Albernheiten und Bud-Spencer-und-Terence-Hill-Filmen aufgewachsen ist, und bis heute diesen Machwerken was abgewinnen kann, durchaus amüsant.
Für alle anderen könnte die Kombination aus düsteren Elementen und teils deftigen Albernheiten befremdlich sein. Letztendlich ist Auf der Suche nach dem Vogel der Zeit eher Scheibenwelt als Game of Thrones.
P.P.S.: Mut zur zweiten Hand
Während ich diese Rezension schreibe, ist der Sammelband verlagsseitig vergriffen. Bei online Händlern und als 2nd-Hand-Ware aber noch gut und zu vernünftigen Preisen erhältlich. Ob und wie sich das noch ändert, weiß ich natürlich nicht.
Der zweite Sammelband ist auch beim Verlag noch erhältlich. Und die Serie wird aktuell mit Band 10 und 11, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit erschienen sind, fortgesetzt. Das ist die gute Nachricht: Die Serie ist lebendig.
Kritischer ist die Tatsache, dass man ausgerechnet Band 9 im Augenblick nicht bekommt. Das reißt natürlich eine unangenehme Lücke, denn 1-8 erhält man halt ziemlich gut als Sammelbände, 10 und 11 einzeln.
Ich hoffe einfach mal, dass bald Band 12 erscheint und dann langfristig geplant ist, auch 9-12 als Sammelband auf Deutsch zu veröffentlichen. Aber das ist nur meine persönliche Hoffnung, keine gesicherte Information. Angekündigt ist leider nichts.
Und selbst wenn das so käme, wäre mit Band 12 wahrscheinlich nicht vor 2026 zu rechnen, was einen potenziellen Sammelband wohl eher in die 2030er verschiebt.
Der durchschnittliche Abstand zwischen den einzelnen Veröffentlichung beträgt nämlich und vier Jahre. Zwischendurch pausierte die Serie aber auch einmal für beinahe 12 Jahre. Insofern ist es also reine Spekulation, ob und wie die Serie weitergeführt und in Zukunft erhältlich sein wird.
Aber der erste Sammelband kann in meinen Augen auch getrost für sich gelesen werden und viel Spaß machen. Mich würde wundern, wenn Carlsen die Serie nicht in irgendeiner Form auch komplett wieder zurückbringt.