Pen & Paper

Eine Einführung in das Erlebnis Fantasy Rollenspiel

Eine Kurzform des Beitrags gibt es auch auf YouTube als Video. 
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Du stehst in einem Wald. Durch die Baumkronen über deinem Kopf kannst du den Mond vor dem schwarzen Himmel sehen. Eine Fackel knistert in deiner Hand.

Es knackt im Unterholz. Äste rascheln. Etwas kommt auf dich zu.

Was tust du?

So kannst du dir den Einstieg in eine Partie Pen & Paper Rollenspiel vorstellen.

Das Wichtigste hast du gerade erfahren. Du bekommst von einer Spielleiterin oder einem Spielleiter die Wahrnehmung deines Charakters geschildert. Damit wirst du angeregt, dir genau vorzustellen, wo du dich gerade befindest, was um dich herum geschieht und welche Möglichkeiten du hast, dich zu entscheiden, was du in der Haut deines Charakters in der Spielwelt als Nächstes unternehmen könntest.

Du siehst, hörst, riechst und fühlst wie dein Charakter in der Spielwelt, vorausgesetzt, deine Fantasie reicht aus, um dich in dessen Lage zu versetzen. Rollenspiele sind eben nicht wie Brettspiele, in denen du eine Figur über das Spielfeld führst. Und Pen & Paper ist auch nicht vergleichbar mit einem EgoShooter oder einem ähnlichen elektronischen Spiel, das du aus der Ich-Perspektive erlebst.

Der entscheidende Unterschied zu allen anderen Spielgenres bist du. Du und deine Vorstellungskraft. Denn Pen & Paper besteht im Wesentlichen aus zwei Dingen, aus Sprache und Fantasie.

Die Spielrunden laufen so ab, dass alle Beteiligten sich vor allem darüber unterhalten, was ihre Charaktere tun und wie die Umwelt auf diese Taten reagiert. Besonders bedeutsam ist, dass alle auch in die Rollen ihrer Spielfiguren schlüpfen und sie miteinander reden, als würden sie sich auch selbst in der Spielwelt befinden.

Das eigentlich Abenteuer spielt sich so in deinem Kopf ab. Kopfkino at it’s best.

Hast du beim Beispiel oben den Waldboden unter deinen Füßen gespürt? Konntest die erdige Luft riechen und hast ein leichtes Frösteln auf der Haut gefühlt? Hattest du das Rascheln der Blätter im Ohr und vielleicht sogar ein Käuzchen in der Dunkelheit rufen gehört?

Falls ja, dann bist du bereit dazu, Pen & Paper zu spielen. Falls nicht … Na ja, gib der Sache vielleicht noch eine Chance.

Warum reden eigentlich gerade jetzt alle von diesem Pen & Paper?

Fantasy-Rollenspiele sind inzwischen eigentlich spätestens dank der Netflix-Serie Stranger Things oder dem Comedy-Hit The Big Bang Theory bekannt.

Pen & Paper hat in den großen Medien schon immer stattgefunden. Schon in E.T. – Der Außerirdische aus dem Jahr 1982 spielen die Kinder zu Beginn im Wohnzimmer Dungeons & Dragons. Und 1997 spielen die Einsamen Schützen in der 5. Season X-Files in Folge 3 ebenfalls D&D. Und das sind nur zwei Beispiele von wirklich vielen.

Warum erzähle ich das?

Pen & Paper ist kein neuer Trend, eine Flause auf dem Spielemarkt oder ein vorübergehendes Phänomen. Pen & Paper gibt es seit mehr als 50 Jahren und ist ein fester Bestandteil der Pop- und Subkultur und letztendlich für sehr viele Menschen nicht nur ein Hobby, sondern schon beinahe ein Lebensstil.

Aber in den letzten Jahren, vor allem seit der ersten Season Stranger Things 2016, schlug das Phänomen D&D so richtig ein, was die Popularität des Hobbys angeht, weil mehrere Dinge zusammenkamen.

Erstens gab es Social Media, wo ein reger Austausch über Medienerfahrung stattfindet und die Leute sich schnell erkundigen konnten, was denn die Kids in der Serie da Interessantes zocken.

Zweitens war gerade kurz zuvor die 5. Auflage von Dungeons & Dragons erschienen. Es gab also ein tolles, ausgereiftes und frisches Produkt, auf das sich Neugierige stürzen konnten.

Drittens war gerade der YouTube-Kanal Critical Role gestartet, in dem professionelle Voice Actors und gelegentlich auch Hollywood-Prominente vor laufender Kamera D&D spielen. Das hat einerseits das Spiel aus der Nerd-Ecke geholt und cool gemacht und andererseits den Menschen auch sehr unkompliziert gezeigt, wie man denn Pen & Paper spielt und erfahrbar gemacht, wie unterhaltsam das sein kann.

Falls du jetzt neugierig geworden bist, aber kein Englisch verstehst, es gibt auch einen Kanal wie Critical Role, in dem aber deutsche Synchronsprecher D&D spielen namens Dice Actors.

Und wie genau spielt man nun?

Aber ich schweife ab. Bleiben wir bei unserem Beispiel vom Anfang.

Da könnte es folgendermaßen weitergehen:

Du: »Ich wechsle die Fackel in die linke Hand, ziehe mit der rechten mein Schwert und strecke es dem Gebüsch entgegen.«

Spielleiterin: »Alles klar. Würfle für Initiative, um zu sehen, wer als erster dran ist. Du oder das unbekannte Ding, das sich dir nähert.«

Du würfelst mit einem W20 (einem zwanzigsteigen Würfel, s. Bild oben) und addierst den Wert für Initiative, den du auf dem Charakterblatt findest. Ein Papier, auf dem alle Spielwerte deiner Spielfigur stehen. Denn, wir erinnern uns, du erlebst die Spielwelt durch die Augen dieses Charakters. Um ihn zu bestimmen, gibt es unter anderem Spielwerte, wie z.B. einen Wert für Initiative.

So sehen Charakterblätter im Rollenspiel Beyond the Wall aus.
Foto: Marcus Johanus 2024

Du würfelst eine 12 und addierst deine Initiative von 2. Deine Spielleiterin würfelt ebenfalls, erzielt aber ein 18. Höher ist besser.

Du: »14!«

Spielleiterin: »Ha! Du bist zu langsam. Aus dem Unterholz bricht ein Goblin. Der Schein deiner Fackel spiegelt sich in seinen schwarzen Augen. Er legt den Kopf schief und hebt sein schartiges Kurzschwert, greift aber noch nicht an.«

Du: »Verzieh dich oder ich mach dich um einen Kopf kürzer.«

Spielleiterin: »Alles klar. Würfel mal auf Einschüchtern.«

Du würfelst, addierst wieder einen Wert, deine Spielleiterin würfelt ebenfalls. Jadda, jadda …

Spielltierin: »Puh. Der Goblin murmelt etwas vor sich hin und verschwindet dann wieder im Unterholz.«

Im Prinzip weißt du jetzt, wie man Pen & Paper spielt. Du schlüpfst in die Rolle eines Charakters, kannst anhand seiner Spielwerte, vor allem aber mit deinen eigenen Ideen und deiner Sprache mit der Spielwelt interagieren, die wiederum von einer Spielleitung dargestellt wird.

Soll etwas entschieden werden, was in den Bereich der Fähigkeiten deines Charakters fällt, musst du würfeln, um zu sehen, ob funktioniert, was du vorhast.

Was nun vielleicht etwas nüchtern klingt, ist für Menschen, die Fantasy lieben und selbst gerne Welten und Geschichten in ihrem Kopf erschaffen, ein Festmahl. Ach was, ein Bankett!

Erinnere dich an deine Kindheit. Da hast du dir auch einen Kochtopf aufgesetzt, mit einem Stock in der Hand herumgefuchtelt und auf diese Weise Drachen niedergestreckt. Genau so funktionieren Pen & Paper Rollenspiele auch.

Deiner Fantasie sind beim Pen & Paper nur wenige Grenzen gesetzt. Du erlebst in deinem Kopf das, was du sonst nur beim Lesen oder Anschauen eines Films usw. mitbekommst. Doch im Gegensatz zum reinen Konsumieren einer fantastischen Geschichte und vor allem im Gegensatz zu jeder anderen Spielform, erschaffst du in einem Rollenspiel deine eigene Geschichte, ja, sogar deine eigene Welt.

Und du besitzt nahezu komplette Freiheit darüber, was du tun und lassen kannst, weil dich kein Spielbrett und keine programmierte Simulation einschränken. Vor allem aber erlebst du sie gemeinsam mit anderen, denn gespielt wird fast immer in einer Gruppe.

Rollenspiele sind soziale Ereignisse, Partys und kooperatives Spiel in einem.

Zusammen simuliert ihr eine Spielwelt, gestaltet sie mit euren Entscheidungen, erlebt Abenteuer, Tragik, Komik, Spannung …

Und alles, was man dafür benötigt, sind ein paar Würfel, ein paar Bögen Papier, Stifte und Fantasie. Genial old schoolig, oder?

Falls du jetzt angefixt bist, dir aber immer noch nicht so genau vorstellen kannst, was es mit diesem Pen & Paper auf sich hat, dann schau doch einfach eine Folge Critical Role oder Dice Actors.

Der zwanzigseitige Würfel (kurz W20) wird in sehr vielen Rollenspielen verwendet.
Deswegen gilt es als Symbol für Pen & Paper.
Foto: Marcus Johanus 2024

Ein paar kurze Worte für Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen (alle anderen müsse hier nicht weiterlesen, wirklich nicht)

Die erste Welle des Erfolgs von D&D in den 1980er Jahren wurde von einer Woge besorgter Eltern, Lehrerinnen und Lehrern und religiösen Menschen begleitet.

So schlimm wie damals, als vor allem in den USA tatsächlich viele Menschen glaubten, während einer D&D-Spielrunde würden die Kids den Teufel anbeten und Dämonen beschwören, ist es heute nicht mehr.

Aber noch immer gibt es Vorurteile. Vor allem im pädagogischen Kontext.

Nicht selten gründen sich beispielsweise Pen & Paper Arbeitsgemeinschaften in Schulen, denen manche skeptisch begegnen. Oder es gibt besorgte Eltern, die sich nicht vorstellen können, was ihre Sprösslinge da die halbe Nacht in ihrem Zimmer hinter verschlossener Tür treiben.

Hier in Kürze ein paar Argumente, wieso es gerade für Kinder nicht nur ungefährlich, sondern auch Jugendliche gut sein kann, Pen & Paper zu spielen:

  1. Die Kids verbringen die Zeit, in der sie Pen & Paper zocken, nicht vorm Bildschirm.
  2. Pen & Paper spielen ist gleichbedeutend mit Lesen. Denn die Rollenspielregelbücher haben viel Text, der meistens auch nicht gerade simpel ist.
  3. Häufig finden Menschen, die Rollenspiele spielen, auch zur Literatur, denn viele Spiele haben literarische Vorlagen. Und dann steckt man seine Nase mal auch in einen Roman.
  4. Eine Rollenspielrunde ist wie ein Rudergerät fürs Gehirn. Mit so einem Ding kommt man nicht von der Stelle, aber man trainiert doch alle Muskeln und seine Ausdauer, um im Ernstfall fit zu sein. Das gleiche machen Rollenspiele, denn sie sind gut fürs Sprachzentrum, das Gedächtnis und schulen die Fähigkeit zum abstrakten Denken.
  5. Pen & Paper ist eine Tätigkeit, die viele soziale Fähigkeiten erfordert. Man muss sich mit einer Gruppe abstimmen, Pläne schmieden, Handlungsfähigkeit beweisen, Rücksicht auf andere nehmen und sich manchmal auch durchsetzen. Deswegen gibt es durchaus auch Zoff am Spieltisch. Das ist normal und auch ganz gut so, denn man lernt so auch Konfliktverhalten.
  6. Über Rollenspielrunden vertiefen sich Freundschaften. Wenn auch nur in der Fantasie, so erlebt man doch Abenteuer. Das schweißt zusammen.
  7. Viele Spielerinnen und Spieler aktiviert Pen & Paper. Soll heißen, die Menschen fangen an die Hintergrundgeschichten ihrer Charaktere zu schreiben, ihre Spielfiguren zu zeichnen oder ganze Welten und Geschichten zu erschaffen.
  8. Wie bei jeder Gruppenaktivitäten muss man sich verabreden, Termine finden, sich als zuverlässig erweisen usw.

Natürlich ist es gut, wenn gerade Kinder und Jugendliche nicht zu viel sitzen, auch mal nach draußen gehen, nicht zu viele Snacks in sich reinstopfen und, und, und … Niemand sagt, das Pen & Paper das einzige Hobby sein sollte oder dass sieben Tage die Woche, zehn Stunden am Tag zocken normal wären.

Wie alles andere im Leben auch, kann man es mit Pen & Paper übertreiben.

Aber von der Sache her können Rollenspiele, in einem vernünftigen Maß gespielt, ein durchaus sinnvolles und gewinnbringendes Hobby sein.

Und sie machen halt einfach Spaß.

Ein kurzes Schlusswort

Wenn Pen & Paper so super ist, warum spielen das dann nicht alle und überall? Wieso ist es nicht noch größer in den Medien und die kommerziell erfolgreichste Spielform aller Zeiten? Warum führt dieses Genre auch nach 50 Jahren immer noch ein Nischendasein?

Eine berechtigte Frage.

Und die Antwort offenbart gleichermaßen das Wunderbare wie auch das Problematische an Pen & Paper.

Man benötigt eigentlich nichts, um Pen & Paper zu spielen, wenn man das Spielprinzip erst einmal verstanden hat. Ich muss keine neue Software kaufen, kein Abo abschließen und nirgendwo Eintritt zahlen.

Ja, es gibt sehr, sehr viele schicke Bücher für das Hobby, die man kaufen kann, Die sind auch nicht billig. Aber braucht man sie wirklich?

Eben nicht. Viele Pen & Paper-Liebhaber kaufen gerne diese Bücher. Aber zum Spielen notwendig sind sie nicht.

Erschwerend kommt hinzu, dass jede Spielrunde eigentlich nur eines dieser Bücher benötigt. Man kauft einmal ein Buch und rund fünf Leute können damit bis an ihr Lebensende Spaß haben. Ein kapitalistischer Albtraum.

Mit Pen & Paper Rollenspielen lässt sich nicht viel Geld verdienen. Jedenfalls nicht im Vergleich zu Konsolen- und Computer- oder Handy-Spielen.

Damit sind sie aus dem Zeitgeist gefallen.

Im Prinzip spielt man Pen & Paper noch immer so wie vor 50 Jahren, als es den ganzen elektronischen Unterhaltungsschnickschnack noch nicht gab. Als es auch den kommerziellen Druck noch nicht gab, so und so viel Umsatz mit einem Produkt erwirtschaften zu müssen, »damit es sich lohnt«.

Aus diesen Gründen steckt Pen & Paper spätestens seit Ende der 1990er Jahre, als sich die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Bücher für das Hobby erschienen, veränderten, in einer kommerziellen Dauerkrise. Wohlgemerkt, kommerziell, nicht kreativ.

Denn kreativ gab es noch nie so wunderbare Zeiten für Pen & Paper Rollenspiele wie die Gegenwart. Spiele sprießen wie Pilze aus dem Boden. Neue, innovative Konzepte und das Wiederbeleben alter Trends bereichern sich gegenseitig und erschaffen dank neuer (sozialer) Medien ein Paradies für Spielerinnen und Spieler mit einer nie zuvor gekannten Auswahl und diverser Quelle für Inspiration.

Pen & Paper ist damit ein bisschen aus der Zeit gefallen. Ähnlich wie Vinylplatten oder Lyriksammlungen. Etwas für Liebhaber.

Eben Old School.