Faszination True Crime – was dürfen Krimis und Thriller?

Faszination True Crime - was dürfen Krimis und Thriller?

True Crime ist ein boomendes Genre. Praktisch alle TV-Sender und Streamingplattformen bieten eigene Formate an. Auf dem Zeitschriftenmarkt tummeln sich Hefte über reale Verbrechen. Und Romane mit dem Prädikat »Beruht auf einer wahren Begebenheit« erregen Aufmerksamkeit.

Aber dürfen wir uns so unbeschwert von realen Verbrechen, und damit ja auch von realen Opfern, unterhalten lassen?

Der Science-Fiction-Autor H.G.Wells spielte in seiner Freizeit sehr gerne mit Zinnfiguren Kriegssimulationen. Auf die Frage, ob es nicht moralisch unverantwortlich sei, aus Krieg ein Kinderspiel zu machen, entgegnete Wells sinngemäß, dass er das Problem nicht sehe. Im Gegensatz zu den Soldaten auf dem Schlachtfeld würden seine Zinnsoldaten keine Zinnwitwen und Zinnwaisen zurücklassen.

Ähnlich verhält es sich mit Krimis und Thrillern. In ihnen finden Verbrechen statt, mit denen sich Autor und Leser spielerisch auseinandersetzen. Somit kann man sich in einer sicheren Umgebung mit heiklen Themen beschäftigen, ohne dass jemand, im Zweifelsfall man selbst, zu Schaden kommt.

Die Lust am Verbrechen – nicht eine Frage des Ob, sondern des Wie

Der überragende Erfolg des Krimi- und Thrillergenres, das nach verschiedenen Erhebungen nach wie vor das am meisten gelesene ist, ist ein Hinweis darauf, dass es offensichtlich ein Grundbedürfnis gibt, sich mit Verbrechen auseinanderzusetzen.

Nun gibt es aber ganz verschieden Darstellungsformen des Verbrechens in der Literatur. Im Landhaus-Krimi dient der meiste kaum inszenierte Leichenfund lediglich als Aufhänger, um sich eher intellektuell und psychologisch, meistens auch humorvoll mit der Tat auseinanderzusetzen.

Ganz im Gegensatz dazu werden im Thriller mit psychopathischen Serienkiller häufig der abgründigen Psyche des Täters, seinen Tötungsmethoden und dem Leichenfund mit detaillierten Beschreibungen von Verletzungen viel Raum gegeben.


Realitäts- und Intensititätsskala von Thriller- und Krimi-Subgenres

  • Cosy Crime/Landhauskrimi
  • Regionalkrimi
  • Crime noir/Hardboiled
  • Police Procedual
  • Thriller
  • Psychothriller
  • Gerichtsmedizinerkrimi
  • Thriller und Krimis, die auf einer wahren Begebenheit beruhen

Beide stellen sozusagen eine Skala dar, mit welchen emotionalen Registern und mit welcher Distanz sich Leser und Autor mit Verbrechen beschäftigen. Während das eine eher ein intellektuelles Rätsel ist, stellt das andere vielmehr eine Art Ersatzbefriedigung dar.

Beide erfüllen unterschiedliche Bedürfnisse, sich mit dem Phänomen Verbrechen auseinanderzusetzen und es somit auch zu verarbeiten. Ähnlich wie bei H.G. Wells‘ Kriegsspielen. Und so wie es auch keine Zinnwitwen und Zinnwaisen gibt, müssen für Krimi- und Thriller-Romane keine echten Menschen sterben, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Spielarten von True Crime

Noch wichtiger, Leser können den Thrill, den das Verbrechen und die Begegnung mit dem Täter darstellt, auf schaurigschöne Weise genießen, ohne sich in echte Gefahr zu begeben. In den Schuhen eines Kriminalkommissars oder Privatdetektivs wandeln, ohne sich jedoch die Schuhe blutig zu machen.

Es ist ein Spiel.

Aber hinter realen Verbrechen stecken reale Schicksale. Gefühlen oder gar das Leben echter Menschen. Hier werden reale Ereignisse zum Anlass genommen, Geschichten zu erzählen, die unterhalten sollen. Je nach Präsentationsform ist der fiktionale Anteil größer oder geringer.

Prominentes Beispiel ist die ZDF-Serie »Aktenzeichen XY«, die so ziemlich jeder kennen dürfte. Sie gibt sich Mühe, so dokumentarisch wie möglich zu sein. Allerdings dürften die wenigsten die Serie gucken, um am Ende sachdienliche Hinweise zu den ungeklärten Verbrechen beizutragen.

Die meisten Menschen genießen den besonderen Kick. Denn im Unterschied zum rein fiktionalen Krimi oder Thriller, ist hier ja alles mehr oder weniger echt. Nur die Präsentationsform setzt einen fiktionalen Rahmen.

Ebenso ist es ein Verkaufsargument für viele Romane, wenn sie auf realen Ereignissen beruhen. »Nach einer wahren Begebenheit« ist ein Qualitatäsprädikat und für viele eine Grund, einem Roman gegenüber einem »nur ausgedachten« Krimi zu bevorzugen.

Menschen wie Michael Tsokos bauen ihre Autorenkarriere darauf auf, dass ihre Romane eine besonders »echte« Note haben, da ihre Expertise, in seinem Fall seine Tätigkeit als Gerichtsmediziner, ein ganz besonderes Leseerlebnis verspricht.

Andere berühmte Beispiele, in denen wahre Ereignisse als Grundlage für fiktionale Formate dienen, sind der Zodiac-Killer oder Jack the Ripper, die in vielen Inkarnationen der Popkultur verarbeitet wurden. Aber auch »Buffalo Bill«, der Mörder aus Thomas Harris‘ »Schweigen der Lämmer«, ist ganz bewusst aus den realen Biografien verschiedener Serienmörder zusammengestellt worden.

Hier kann das Argument, dass es okay ist, sich mehr oder weniger spielerisch mit ausgedachten Morden zu beschäftigen, nicht zählen. Am Ende bedeutet es ja für den Leser den besonderen Kick, dass er weiß, dass alles wirklich einmal geschehen ist.

Die wichtige Zutat, die über Lust oder Unlust entscheidet

Ist das dann moralisch wirklich noch okay? Ethisch vertretbar? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie einen geliebten Menschen durch ein Verbrechen verloren haben und dann einen Krimi darüber lesen müssten, der mit der Lust am Verbrechen und dem Spaß an der Angst spielt? Wenn andere Menschen ihr schweres Schicksal dafür nutzten, sich einen schönen Abend mit gruseliger Unterhaltung zu bereiten?

Der NDR plante einmal einen Tatort, der sich besonders nahe an der Realität orientieren sollte. Ähnlich wie bei Orson Wells‘ »Krieg der Welten« war geplant, eine Tagesschau-Sendung möglichst echt zu fingieren, um dann vor laufender Kamera das Studio von Terroristen besetzen zu lassen. Ein garantierter Schockeffekt. Ich kann praktisch vor mir sehen, wie Ausschnitte aus so einem Tatort auf YouTube viral verbreitet werden. Und wie Kommentatoren sich über die vermeidliche Echtheit gegenseitig zerreißen. Wie in den Medien diskutiert wird, was die Kunst darf und was nicht.

Ein garantierter Hit eigentlich. Zumindest wäre dem NDR mit so einem Tatort Aufmerksamkeit sicher gewesen.

Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris hat man die Idee zu diesem Tatort aber schnell begraben. Ähnlich wie nach dem 11. September 2001 auch keine Katastrophenfilme mehr in den US-Kinos gezeigt wurden.

Hier wird deutlich, was die entscheidende Zutat ist, um True Crime und Thriller und Krimis mit einer realen Grundlage genießen zu können.

Distanz.

Denn wie Wells‘ schon sagte, das Gute am Spiel mit Zinnsoldaten ist, dass es keine Zinnwitwen gibt. Bei True Crime und Romanen mit realer Grundlage ist das anders.

Das ist der Grund, wieso viele True Crime-Formate am Ende doch einen fiktionalen Rahmen erhalten. Wieso TV-Sendungen dieses Genres eben doch einen Erzähler haben, der dem realen Entsetzen eine fiktionale Ebene hinzufügt. Und warum Autoren Michael Tsokos ihre Romane nicht als Biografien verkaufen.

Es muss die Distanz zum realen Verbrechen erhalten bleiben oder aufgebaut werden. Denn zu nahe wollen wir das reale Grauen dann aus verständlichen Gründen doch nicht an uns heranlassen.

Insofern dürfen Krimis und Thriller beliebig realistisch sein. Ein moralisches oder ethisches Problem gibt es dabei eigentlich nicht. Die Frage ist am Ende, ob jemand einen Roman noch lesen will. Und das hängt, wie so häufig, vom einzelnen Leser ab, und davon, welche Distanz er zum Verbrechen benötigt.


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