Wichtiger als das Genre Ihres Romans: Reportage oder Märchen?

reportage oder märchen

Romane werden in Schubladen geordnet. Diese Schubladen heißen Genres – und es gibt viele von ihnen: von Science Fiction bis Liebesroman von Krimi bis Horror.

Jenseits dieser Schubladen gibt es zwei wesentlich gröbere entscheidendere Kategorien: Märchen und Reportagen.

Die Schubladen Märchen und Reportage, Meta-Genres, sind wahrscheinlich den wenigsten Autoren und Lesern bewusst, aber sie entscheiden mindestens genauso darüber, ob Ihr Roman sein passendes Publikum findet oder nicht.

Um zu verdeutlichen, was ich meine, nehmen wir als Beispiel zwei Autoren, die Thriller schreiben: Sebastian Fitzek und Don Winslow. Im Regal beim Buchhändler stehen sie dicht nebeneinander. Trotzdem sprechen sie ein ganz unterschiedliches Publikum an. Denn Fitzek schreibt Märchen, wohingegen Winslow Reportagen schreibt.

Was meine ich damit? Ganz offensichtlich kommen in Fitzeks Romanen keine Feen, Zwerge und Prinzessinnen vor. Und Winslows Romane sind erfundene Geschichten, keine Berichte realer Ereignisse.

Aber die Strukturen und Motive der Romane beider Autoren sind höchst unterschiedlich und erinnern bei Fitzek eher an Märchen und bei Winslow eher an Reportagen.

Moderne Märchen und fiktive Reportagen als Kuckuckseier in anderen Genres

Märchen erfüllen weder das Kriterium, dass sie realistisch, noch dass sie originell sein müssen. Im Gegenteil. Märchen leben davon, dass sie immer wieder die gleichen Strukturen und die gleichen Motive auf unterschiedliche Weise anordnen.

Märchen besitzen folgende Kennzeichen:

  • Realismus und Plausibilität sind zweitrangig. Wölfe können sprechen, Spiegel geben Ratschläge und Könige heiraten vom Fleck weg das arme Bauernmädchen …
  • Die Welt der Märchen ist abstrakt. Selten erfährt man etwas über einen konkreten Handlungsort oder die Zeit, zu der das Märchen handelt.
  • Psychologische und moralische Motive beherrschen die Handlung, die allerdings verschlüsselt dargestellt werden.
  • Archetypen (die Darstellungen grundlegender Wesenszüge) sind wichtiger als individuelle Charaktere.
  • Die Gesellschaft wird holzschnittartig dargestellt. Gut und Böse, Arm und Reich, dazwischen gibt’s meistens nichts.
  • Beim Publikum sollen starke Emotionen geweckt werden, z.B. Mitleid, Erschrecken, Erleichterung usw.

Reportagen lassen ich folgendermaßen beschreiben:

  • Reportagen sind Texte, die die Wirklich möglichst detailgetreu und wahrhaftig wiedergeben sollen.
  • Das Setting einer Reportage ist konkret, Handlungsort und Zeit spielen eine große Rolle, denn die spezielle Geschichte, die sie erzählen, kann nur auf eine Weise stattfinden.
  • Figuren sind in der Reportage Individuen.
  • Die Gesellschaft wird in ihrer Vielfältigkeit und vor allem Vielschichtigkeit dargestellt. Es gibt also nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Grautöne.
  • Informationen sind wichtiger als Emotionen.

Das Publikum für Romane, die eher Reportagen entsprechen, möchte nicht in eine andere Welt entführt werden, sondern ihre eigene besser kennenlernen.


Märchen und Reportagen gibt es in allen Genres

Jedem fallen nun bestimmt in allen möglichen Genres bestimmte Beispiele ein.

  • Agatha Christies Romane sind eher Märchen. Sie spielen an generischen Orten (abgelegenes Haus, Zug, fiktive Dörfer), wohingegen Autoren wie Michael Connelly eher Reportagen schreiben (Vietnam-Veteranen, Drogenkartelle und gebrochene Helden).
  • »Star Wars« und »2001« sind beides Science-Fiction-Filme. Aber während »Star Wars« sich nicht einmal darum bemüht, eine realistische Zukunftsperspektive zu entwickeln, wird »2001« genau von dieser Grundidee beherrscht.
  • Zwischen Tolkiens »Der Herrn der Ringe« und Martins »Game of Thrones« liegen Welten. Während sich Tolkien eher an mythologischen Vorbildern und vor allem erzählerisch an einer märchenhaften Struktur orientiert, greift Martin auf historische Vorbilder zurück und bemäht sich massiv um eine Pseudorealität seiner Schöpfungen, vor allem auf der Figurenebene.

Wieso sollten Sie sich darüber Gedanken machen, ob Ihr Roman eher einem Märchen oder eher einer Reportage entspricht?

Meiner Ansicht nach ist es viel entscheidender zu wissen, ob Sie Märchen oder Reportagen schreiben, als das exakte Subgenre zu kennen.

Denn die Frage, ob ein Roman Märchen oder Reportage ist, entscheidet ganz grundlegend über das Zielpublikum.

Beide Formen von Romane bieten vollkommen unterschiedliche Leseerlebnisse und sprechen deswegen andere Leser an.

Hinzu kommt, dass sich Einiges am Roman optimieren lässt, wenn Sie erst einmal erkannt haben, welches dieser beiden Metagenres Sie bedienen wollen.

  • Wollen Sie Märchen schreiben, müssen Ihre Romane entsprechende Stilmittel, Motive und psychologische Aspekte enthalten, die auch im traditionellen Märchen wichtig sind.
  • Vor allem die Heldenreise spielt dann eine entscheidende Rolle. Kleine Freiheiten, was Realismus und Recherche angeht, akzeptiert das Zielpublikum eher, als das Versagen des Romans auf emotionaler Ebene.
  • Wenn Sie Reportagen anstreben, müssen Sie exakt recherchieren und Handlung sowie Figuren müssen realistisch sein.
  • Leser von reportagenartigen Romane wollen, dass jedes Detail – jeder Ort, jeder Fakt – stimmt. Und alle Figuren, ob nun erfunden oder nicht, müssen sich plausibel verhalten.
  • Die emotionale Ebene ist hingegen eher zweitrangig, wenn auch nicht vollkommen unwichtig.

Vor langer Zeit …

Besonders wichtig ist, dass das Publikum schon auf den ersten Seiten, ja, sogar mit den ersten Sätzen merkt, woran es mit Ihrem Roman ist.

George Lucas hat für »Star Wars« seinerzeit die Holzhammermehtode gewählt. Sein Film beginnt mit den Worten »Vor langer Zeit in einer Galaxis, weit, weit entfernt …«. Eine drastische Maßnahme, die wichtig ist, denn die meisten Filme in den 1970ern sind eher pseudorealistische Dystopien von denen sich Lucas‘ Film komplett unterscheidet. Das Publikum muss sofort wissen, dass es sich um ein Märchen und keine realistische Zukunftsvision handelt, um am Ende nicht enttäuscht zu werden.

Andererseits beginnen viele reportagenähnliche Romane mit exakten Orts- und Zeitangaben als Kapitelüberschriften. Dies ist zumindest ein deutlicher Hinweis darauf, dass das Folgende möglichst realistisch erscheinen will. Auch eine kurze aber präzise Beschreibung eines historischen Fakts oder des Schauplatzes kann dazu beitragen, dass Ihr Publikum weiß, worauf es sich einstellen kann.