Der wahre Erzähler einer Geschichte ist …

»Was will uns der Autor damit sagen?« Jeder hat diese Frage noch aus dem Deutschunterricht in schlechter Erinnerung. Dabei lautet die eigentlich Frage: »Was sagt uns die Geschichte?« Denn der wahre Erzähler einer Geschichte ist nicht der Autor, sondern der Leser.

Der tollste Text besteht doch nur aus schwarzen Strichen auf weißem Grund, solange er nicht auf jemanden trifft, der ihn liest. Er bleibt etwas Abstraktes, Inhaltsleeres und vor allem Gefühlloses. Denn was einen Text erst mit Leben erfüllt, das ist die Fantasie des Lesers.

Das wird schnell vergessen. Während des Schreibens sind Sie mit vielen »Autoren-Dingen« beschäftigt, weil Schreiben ein so komplexer Prozess ist. Da ist es leicht, mehr mit sich selbst beschäftigt zu sein als mit dem potenziellen Leser. Und bis zu einem gewissen Punkt ist das auch in Ordnung.

Viele erleben Ihren Schreibprozess als inneren Film. Es ist ein großes Vergnügen, in seiner eigenen Geschichte zu versinken. Die große Frage beim Überarbeiten muss dann nur lauten: Was kann der Leser damit eigentlich anfangen?

Denn nicht immer ist das, was sich für Sie beim Schreiben gut anfühlt, auch für den Leser nachvollziehbar, sinnvoll und ansprechend. Das ist ein großes Problem. Ich würde sogar sagen, es ist das zentrale Problem beim Schreiben von Romanen.


Es gibt drei grundlegende Strategien, um die Kluft zwischen Autor und Leser zu überwinden:

  1. Ignorieren: Sie drücken sich mehr oder weniger absichtlich rätselhaft aus. Der Leser muss dann viel Arbeit leisten, um den Text zu entschlüsseln und mit Sinn zu erfüllen. Das macht einigen geschulten Lesern sogar Spaß.
  2. Detailliertes Beschreiben: Um exakt das Bild aus ihrem Kopf in die Vorstellungswelt des Lesers zu transportieren, werfen manche Autoren mit Schachtelsätzen, Adjektiven und Adverbien um sich und reihen lange Beschreibungen aneinander.
  3. Flucht nach vorn: Andere Autoren akzeptieren, dass der innere Film, der bei ihnen beim Schreiben abläuft, nicht derselbe ist, der auch beim Leser stattfindet. Sie lassen Vieles aus und geben dem Leser nur das, was er braucht, um seinen eigenen Film im Kopf zu erleben.

Mir gefällt Lösung 3 aus vielen Gründen am besten:

    Leser sind kreativ und eigenwillig. Sie lassen sich nicht bevormunden, sondern lesen das, was sie gerne wollen, und nicht das, was Autoren meinen, was sie lesen müssten. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich der Leser steuern, aber am Ende bleibt er für den Autor eine Black Box.
  • Dem Leser Freiheiten zu gewähren bewirkt als positiven Nebeneffekt eine Art sprachlichen Minimalismus. Sie müssen als Autor wenige, aber sehr gut gewählte Worte schreiben. Mir persönlich gefällt das.
  • Lösungen 1 und 2 setzen ein Verhältnis zwischen Leser und Autor voraus, das nicht gleichberechtigt ist. In beiden Fällen ist der Autor jemand, der seinen Lesern etwas erklärt. Lösung 3 bedeutet, dass Autor und Leser eine Partnerschaft eingehen und gleichberechtigt und produktiv mit dem Text arbeiten. Ich jedenfalls nehme meine Leser gerne ernst.
  • Für viele Leser wird der Roman mit Lösung 3 spannender, denn Sie werden zum aktiven Teil der Geschichte, statt nur zum bloßen Zuschauer.

Schreiben und Lesen sind wie ein Gespräch

Wenn Sie sich ein wenig mit Kommunikation auskennen oder im Alltag bewusst beobachten, wie Menschen miteinander reden, dann wird Ihnen auffallen, dass Gespräche häufig schiefgehen.

Das, was ein Sprecher gerne sagen möchte, was er tatsächlich sagt und was am Ende beim Gesprächspartner ankommt, sind nicht selten völlig unterschiedliche Dinge.

Das bedeutet: Selbst wenn Sie sich Mühe geben, sich so exakt wie nur irgendwie möglich auszudrücken, wird es immer Leser geben, die Sie anders verstehen. Und das ist kein böser Wille oder Dummheit. Es ist schlicht menschlich.

Somit erzählt am Ende der Leser die Geschichte, wenn er den Text entschlüsselt, den Sie geschrieben haben. Seine Erfahrungen, seine Einstellungen und seine Gefühle entscheiden darüber, wie diese Geschichte am erzählt wird.


Für mich sind Autoren diejenigen, die dem Leser die Pinsel und die Farben reichen, damit er auf seiner Leinwand sein eigenes Bild malen kann.